Dienstag, Januar 14

Die großen Bücher

Monat um Monat vergeht. Die Staubschicht im Schloss wird dünner, die Luft besser, die Dielen etwas heller und in die Gänge flutet Licht. Langsam ist es kein großes, klobiges, düsteres Wesen mehr, sondern ein wenig vertrauter. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem sie nicht etwas Neues entdeckt.

Das Schloss ist weitläufig und sehr, sehr einsam, vom Hausherrn kaum etwas zu sehen. Dass das schwarze Wesen überhaupt im Schloss weilt, zeigt sich hauptsächlich an Dingen, die über Nacht den Ort wechseln. An Fußspuren und zerkrümeltem Laub auf der Treppe. Weinkrüge, die geleert und hernach achtlos in irgendeinem verwaisten Korridor auf ihre Wiederentdeckung warten, manchmal wochenlang. Ab und zu findet sich ein alleingelassener Schlüssel, manchmal liegt ein aufgeschlagenes Buch in einem Salon, von Zeit zu Zeit füllt sie Hände voll aufgelesener Münzen in Beutel. Es gibt Räume im Schloss, die von seinem düsteren Herren nicht betreten werden, in anderen findet sie andauernd Spuren seiner Anwesenheit.



Aber gesehen hat sie ihn seit seinem Auftritt auf der Treppe nicht mehr. Einmal noch hat sie die stachelbewehrten Schultern am Ende des Flures oben unterm Dach verschwinden sehen, den schwarzen Umhang hinter sich herschleppend. Wie Sonne und Mond ziehen sie ihre Bahnen durch die Gemäuer, ohne sich zu begegnen. Sie fühlt sich dagegen manches Mal beobachtet, während sie still ihrer Arbeit nachgeht, seine Besitztümer ordnet, seine Zimmer putzt und seine Bücher führt. Vielleicht nur, weil das neue Haus so fremd ist. Vielleicht weil er in all seinen Panzerplatten und Schatten hinter irgendeiner Tür oder einem Vorhang steht und zusieht.
Abgesehen von den Notizen, die er ihr bezüglich ihrer Fortschritte mit seiner Liste hinterlassen hat, hat sie auch keine weiteren Anweisungen erhalten. Ohnehin ist sie seither nicht viel weitergekommen. Die täglichen Verrichtungen lassen ihre Zeit dahinschmelzen wie Eis unter der Julisonne, sodass sie meist abends ins Bett fällt, erschöpft und voller Hoffnungen, dass der nächste Tag ihr ein paar Momente lassen wird, um die gestellten Aufgaben anzugehen.

Einige der angefangenen Aufträge in seinem Studio hat sie erledigt. Der Haushalt läuft zunehmend besser, sie hat die Küche aus dem Dornröschenschlaf geholt und viel geputzt und gekocht. Ebenso bemüht sie sich um eine gewisse Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit in ihren Arbeitszeiten, auch wenn es manchmal noch hapert.

Als sie an diesem Abend die letzte Runde durchs Schloss geht, die Lichter löscht und die Zimmer verschließt, fällt ihr zum ersten Mal auf, dass das große Buch in der Eingangshalle nicht das einzige ist. Das erste der weiteren großen Bücher sieht sie in der Galerie auf der Fensterbank liegen. Scheinbar achtlos hingelegt. Als sie es aufschlägt findet sie wie auch beim anderen Buch nur leere Seiten vor. Elfenbeinweiß und glatt. Ohne Makel. Ohne irgendeine Spur der Zeichnung. Von den Wänden starren nur die ausdrucklosen Gesichter der jahrhundertealten Portraits auf sie herunter und über ihre Schulter in das leere Buch. Die illustren Jagdgesellschaften und Salonrunden bleiben für sich und scheinen sie nicht zu bemerken. Und wieder fühlt sie die Augen auf sich und die Erwartungen, die steigen und auf sie herunterdrücken. Hastig schlägt sie den Buchdeckel zu und verlässt den Raum eilig...

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