Dienstag, Juli 22

Nelke und Schlüssel

Die Nelke liegt sorgfältig getrocknet und zwischen zwei Blättern Seidenpapier in einem kleinen Büchlein auf der Kommode an ihrem Bett. Daneben ein Windlicht auf einem Spitzendeckchen, ein kleiner bronzefarbener Schlüssel in einer Perlmutterschale. Das Abendlicht fängt sich darin und wird in viele irisierende Regenbogenschlieren aufgefächert, verteilt sich und schimmert auf dem Schlüssel.

Ein sanftes Klingeln tönt vom Leuchter in der Halle herein. Der Wind spielt durch die offene Eingangstür und streicht durch die Perlen und Kristalle. In Tausendschöns Kammer bauscht er die langen Vorhänge. Sie ist nicht da. Durchs Fenster sieht man sie im Garten stehen, das Licht der Abendsonne malt einen goldenen Kranz um ihren Kopf, wo es sich in den Haaren fängt. Man kann nicht erkennen was sie tut.

Ihre Haltung ist entspannt, aber auf diese besondere Art, die zeigt, dass die Entspannung auf einen harten und anstrengenden Tag folgt. Rußspuren finden sich an ihren bloßen Unterarmen, das Haar ist zerzaust, Rock und Schürze zerknittert. Bald ist die Sonne weg und sie wird zurückkehren in die Sicherheit der Schlossmauern.

Und er steht da, an die Wand neben den Türrahmen gelehnt und betrachtet sie durchs offene Fenster.

Samstag, Mai 24

Dreimal wechselt der Mond

Der Dörnröschenschlaf ist vorbei. Schwere Ranken sind am Schloss hochgekrochen. Sie erinnert sich kaum an die letzen hundert Tage. Rückzug, Verstecken, immer wieder Zweifel, die aus der Dunkelheit nach ihr grapschen. Seine Stimme, die Flüche wettert, Verdamnis und Zerstörung speit und die Schatten wie Teer über die Wände des Schlosses zerrt und kleistert.

Irgendwann ist sie müde geworden und eingeschlafen. Und die Welt hat sich weiter gedreht und weiter und weiter. Die trägen Beine haben sie von der Kammer in die Küche getragen, hinauf in die Galerie und hinunter in die kalten Keller, über Schlupfwege, Mauersimse und düstere Stiegen. Alles war voll staubiger Sonnenstrahlen in leeren Hallen, Augen und Klauen hinter der nächsten Ecke, Verrat und Trug hinter lächelnden Masken.

Als sie aufgewacht ist, ist sie in die Sonne hinaus gelaufen und hat die Hitze umarmt. Und lange Ketten zerrten beim Laufen an ihren Füßen.

Als sie aufgewacht ist, hat sie aus dem gleißenden Licht in die Eingangshalle zurückgeschaut und er stand da. Alles Panzer und Stacheln und Abwehr und Schmerz. Und er hielt die Ketten in Händen.

Dienstag, Januar 14

Die großen Bücher

Monat um Monat vergeht. Die Staubschicht im Schloss wird dünner, die Luft besser, die Dielen etwas heller und in die Gänge flutet Licht. Langsam ist es kein großes, klobiges, düsteres Wesen mehr, sondern ein wenig vertrauter. Trotzdem vergeht kein Tag, an dem sie nicht etwas Neues entdeckt.

Das Schloss ist weitläufig und sehr, sehr einsam, vom Hausherrn kaum etwas zu sehen. Dass das schwarze Wesen überhaupt im Schloss weilt, zeigt sich hauptsächlich an Dingen, die über Nacht den Ort wechseln. An Fußspuren und zerkrümeltem Laub auf der Treppe. Weinkrüge, die geleert und hernach achtlos in irgendeinem verwaisten Korridor auf ihre Wiederentdeckung warten, manchmal wochenlang. Ab und zu findet sich ein alleingelassener Schlüssel, manchmal liegt ein aufgeschlagenes Buch in einem Salon, von Zeit zu Zeit füllt sie Hände voll aufgelesener Münzen in Beutel. Es gibt Räume im Schloss, die von seinem düsteren Herren nicht betreten werden, in anderen findet sie andauernd Spuren seiner Anwesenheit.