Samstag, Juli 18

Der Schluss eines Kreises ist sein Anfang

Ein Mädchen sitzt in einem Garten zwischen den Brombeerranken. Hinter ihr erhebt sich ein Schloss aus dem wuchernden Grün. Kein großes, eher ein Herrenhaus denn ein Schloss, aber von feiner Bauart. Das Rund des Gartens umschließt es auf allen Seiten und die Brombeeren kriechen die Sockel und Streben empor, sodass der Eindruck entsteht, das Schlößchen wäre ein Schiff inmitten grüner Wogen.

Eine Frau sitzt in einem Garten und ihr gegenüber liegt lang hingestreckt eine schwarze Gestalt, ein schwarzer Panzer. Das Mädchen trägt keine Kleider am Leib, ihr weißes Miederkleid hält sie gefaltet im Schoß.

Sie ist aus dem Panzer gestiegen, und der Panzer war das scheußliche Biest. Sie ist aus dem Mieder gestiegen und das Kleid war das tugendhafte Kind.

Was aus dem Panzer und dem Kleid kam, ist eine Frau, die vor den Spiegel getreten ist und sich selbst im Ganzen gesehen hat: Sich selbst und ihr Spiegelbild. Und wie die sittsame Schöne ihr Mieder löste und ihr Hemdchen ablegt, so fielen von dem Schwarzen Unhold im Spiegel die Platten herunter und die Stacheln ab. Die Nackte im Garten hat gesehen, wie sich der Spiegel auflöst und sie allein zurückbleibt, mit den Masken, den Larven, die sie getragen hat auf der Bühne. Die Bühne hat sich ebenfalls aufgelöst, nur die Frau ist noch da, und ein schwarzes und ein weißes Kleid.

Eine Schöne und ein Biest.

Sie sind beides zusammens, eins und keins, aus ihnen beiden entsteht ein Wort, aus dem Wort entsteht die Geschichte, aus der Geschichte entstehen sie beide. Die Geschichte erzählt sich in schwarz und weiß, in Bedeutung und Leeraum, in nicht und in sein, im Gegensatz, der sich im Satz auf dem Papier vereint. Der Satz ist ein Spiegel und zeigt die Figuren, die vor ihn treten. Was du im Satz siehst, siehst du in dir selbst. Was du in dir selbst siehst, siehst du im Satz.

Oft genug bleibt da nur noch eine Frage: Ist das wirklich wahr?
Wie oft kann man diese Frage stellen, wie oft hält man sie selbst aus, wie oft wagt man sich bis zu dieser Frage vor?

Und die nächste Frage ist: Was ist die Antwort darauf?


Sie hat ein Heim zurückgelassen und ein Heim gefunden.

Dienstag, Juli 22

Nelke und Schlüssel

Die Nelke liegt sorgfältig getrocknet und zwischen zwei Blättern Seidenpapier in einem kleinen Büchlein auf der Kommode an ihrem Bett. Daneben ein Windlicht auf einem Spitzendeckchen, ein kleiner bronzefarbener Schlüssel in einer Perlmutterschale. Das Abendlicht fängt sich darin und wird in viele irisierende Regenbogenschlieren aufgefächert, verteilt sich und schimmert auf dem Schlüssel.

Ein sanftes Klingeln tönt vom Leuchter in der Halle herein. Der Wind spielt durch die offene Eingangstür und streicht durch die Perlen und Kristalle. In Tausendschöns Kammer bauscht er die langen Vorhänge. Sie ist nicht da. Durchs Fenster sieht man sie im Garten stehen, das Licht der Abendsonne malt einen goldenen Kranz um ihren Kopf, wo es sich in den Haaren fängt. Man kann nicht erkennen was sie tut.

Ihre Haltung ist entspannt, aber auf diese besondere Art, die zeigt, dass die Entspannung auf einen harten und anstrengenden Tag folgt. Rußspuren finden sich an ihren bloßen Unterarmen, das Haar ist zerzaust, Rock und Schürze zerknittert. Bald ist die Sonne weg und sie wird zurückkehren in die Sicherheit der Schlossmauern.

Und er steht da, an die Wand neben den Türrahmen gelehnt und betrachtet sie durchs offene Fenster.

Samstag, Mai 24

Dreimal wechselt der Mond

Der Dörnröschenschlaf ist vorbei. Schwere Ranken sind am Schloss hochgekrochen. Sie erinnert sich kaum an die letzen hundert Tage. Rückzug, Verstecken, immer wieder Zweifel, die aus der Dunkelheit nach ihr grapschen. Seine Stimme, die Flüche wettert, Verdamnis und Zerstörung speit und die Schatten wie Teer über die Wände des Schlosses zerrt und kleistert.

Irgendwann ist sie müde geworden und eingeschlafen. Und die Welt hat sich weiter gedreht und weiter und weiter. Die trägen Beine haben sie von der Kammer in die Küche getragen, hinauf in die Galerie und hinunter in die kalten Keller, über Schlupfwege, Mauersimse und düstere Stiegen. Alles war voll staubiger Sonnenstrahlen in leeren Hallen, Augen und Klauen hinter der nächsten Ecke, Verrat und Trug hinter lächelnden Masken.

Als sie aufgewacht ist, ist sie in die Sonne hinaus gelaufen und hat die Hitze umarmt. Und lange Ketten zerrten beim Laufen an ihren Füßen.

Als sie aufgewacht ist, hat sie aus dem gleißenden Licht in die Eingangshalle zurückgeschaut und er stand da. Alles Panzer und Stacheln und Abwehr und Schmerz. Und er hielt die Ketten in Händen.