Samstag, Mai 24

Dreimal wechselt der Mond

Der Dörnröschenschlaf ist vorbei. Schwere Ranken sind am Schloss hochgekrochen. Sie erinnert sich kaum an die letzen hundert Tage. Rückzug, Verstecken, immer wieder Zweifel, die aus der Dunkelheit nach ihr grapschen. Seine Stimme, die Flüche wettert, Verdamnis und Zerstörung speit und die Schatten wie Teer über die Wände des Schlosses zerrt und kleistert.

Irgendwann ist sie müde geworden und eingeschlafen. Und die Welt hat sich weiter gedreht und weiter und weiter. Die trägen Beine haben sie von der Kammer in die Küche getragen, hinauf in die Galerie und hinunter in die kalten Keller, über Schlupfwege, Mauersimse und düstere Stiegen. Alles war voll staubiger Sonnenstrahlen in leeren Hallen, Augen und Klauen hinter der nächsten Ecke, Verrat und Trug hinter lächelnden Masken.

Als sie aufgewacht ist, ist sie in die Sonne hinaus gelaufen und hat die Hitze umarmt. Und lange Ketten zerrten beim Laufen an ihren Füßen.

Als sie aufgewacht ist, hat sie aus dem gleißenden Licht in die Eingangshalle zurückgeschaut und er stand da. Alles Panzer und Stacheln und Abwehr und Schmerz. Und er hielt die Ketten in Händen.



Als sie aufgewacht ist, hat sie fast vergessen, was passiert ist. Das Schloss auch. Ihre bunten Tapeten sind weg, auch der Putz. Nur eine nackte Steinwand erhebt sich über das spiegelnde Parkett.

Als sie aufgewacht ist, hat er sie gefragt: "Warum?" Seine Stimme hat sie geschlagen, verprügelt, zwischen Schieferplatten zerrieben und erdrückt. Rau, tonlos, schwer.

Als sie aufgewacht ist, hat sie geantwortet: "Weil ich leben will."

Geantwortet hat er nicht. Sie stand noch bis zum Einbruch der Nacht zwischen Knochen und Brombeeren. Bis die Sonne schon längst verschwunden war, die Kälte aus dem Immergrün aufstieg und die Farben im Zwielicht verblasst waren. Er ist weg, als sie das Schloss betritt. Die Ketten schleppen hinter ihr über die Flure.

Sie findet ihn in der Galerie, wo ihre Freunde steif aus den Rahmen lächeln. Allesamt so flach und erstarrt. Im Kamin gibt es noch einen Rest Glut. Sie setzt sich daneben, lehnt an den warmen Stein der Verkleidung. Das Halblicht gibt kein klares Bild. Nur eine Masse aus Panzer und Haken, eingewickelt in einen zerschlissenen Umhang. Unter ihm flutet ein Meer aus Papier und Buchstaben über die Diwane. Ein Blatt stiehlt sie aus seiner Hand. Die Glut glimmt auf, einen kurzen Moment lang sieht sie die Gedanken darauf:

"...niemals gut genug. Niemals die Beste, niemals das Beste. Niemals erreichbar....."
"...erlegen möcht ich dich, elendes Biest, elende Bestie. Verhöhnst mich und tust mir so sehr weh..."
"...verdammt und einsam. Verdammt und ewig einsam. Und kein Pfad hinaus, keine Stufe, keine Tür, keine Hand die zeigt. So schwer die Bürde..."

Sie lässt das Blatt fallen. Sie geht.

Ihr Schultertuch hat sie dagelassen.

Am frühen Morgen wird es gefaltet mit einer Nelke und einem Schlüssel auf ihrer Türschwelle liegen.


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