Dienstag, Juli 22

Nelke und Schlüssel

Die Nelke liegt sorgfältig getrocknet und zwischen zwei Blättern Seidenpapier in einem kleinen Büchlein auf der Kommode an ihrem Bett. Daneben ein Windlicht auf einem Spitzendeckchen, ein kleiner bronzefarbener Schlüssel in einer Perlmutterschale. Das Abendlicht fängt sich darin und wird in viele irisierende Regenbogenschlieren aufgefächert, verteilt sich und schimmert auf dem Schlüssel.

Ein sanftes Klingeln tönt vom Leuchter in der Halle herein. Der Wind spielt durch die offene Eingangstür und streicht durch die Perlen und Kristalle. In Tausendschöns Kammer bauscht er die langen Vorhänge. Sie ist nicht da. Durchs Fenster sieht man sie im Garten stehen, das Licht der Abendsonne malt einen goldenen Kranz um ihren Kopf, wo es sich in den Haaren fängt. Man kann nicht erkennen was sie tut.

Ihre Haltung ist entspannt, aber auf diese besondere Art, die zeigt, dass die Entspannung auf einen harten und anstrengenden Tag folgt. Rußspuren finden sich an ihren bloßen Unterarmen, das Haar ist zerzaust, Rock und Schürze zerknittert. Bald ist die Sonne weg und sie wird zurückkehren in die Sicherheit der Schlossmauern.

Und er steht da, an die Wand neben den Türrahmen gelehnt und betrachtet sie durchs offene Fenster.
Lässt die Gedanken wandern und findet sich wieder in der Galerie, wo ihr Tuch über ihn gebreitet ist und ihre Füße Abdrücke auf seinen Notizen hinterlassen haben. Er hat sie gehasst. Auf einmal ist sie dagewesen, hat das Schloss verschandelt und ihn zutiefst beleidigt mit ihrer Respektlosigkeit. Hat ihn provoziert, ignoriert und irritiert, auf einmal war sie überall und doch nicht zu fassen. Und dann die Eingangshalle! Der Schutt, der Dreck, das bunte Übel an den Wänden. Noch schlimmer als der plötzliche Wahnsinn war, dass sie sich verkrochen hat, jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen ist. Ihn zum Bösen gemacht hat.

Und plötzlich war sie verschwunden. Hat ihn leer angeblickt, hat ihre Arbeit getan und ist immer weiter in sich eingesunken, bis kaum noch etwas übrig war. Und er verstand nicht, was das war, bis er sie eines Nachts im Regen auf dem Turm fand, halb erfroren in Wind und Kälte kauernd und so abwesend, dass er sie vor Wut beinahe an den Haaren zurück ins Schloss geschleift hätte.

Er hat sie angekettet in seiner Hilflosigkeit und gewartet und beobachtet. Die Enden der Ketten immer in Händen und stets auf der Hut. Und irgendwann ist sie von allein wieder aufgewacht. Hat ihn angesehen und ihm ins Gesicht gesagt, sie wolle leben. Und etwas in ihm hat zu wuchern begonnen, plötzlich und heftig und hart, sodass ihm kein ruhiger Atemzug mehr möglich war. Nun ist er geflohen und gerannt. Blindlings, vor seiner Unruhe und den tobenden Gefühlen. Er hat die Gedanken aus sich herausgewürgt, die Schreibfeder schmerzhaft zwischen die Klauen geklemmt und irgendwann war alle Kraft verloren. Letztlich ist er aufgewacht auf den Diwanen vor dem Kamin, die Seiten überall verstreut und ihr blasses, wollenes Tuch um die Schultern.

Und irgendwie hat er diese Nelke gefunden, draußen zwischen den Mauersteinen, diese einzelne Blüte. Wozu weiß er nicht mehr. Eine Anwandlung. Den Schlüssel für die Fesseln hat er ihr zusammen mit Tuch und Blume vor die Tür gelegt und sich zurückgezogen. Und sich vorgenommen, ein Gespräch zu suchen.

Hier steht er nun, mit einer seit Tagen angewachsenen Last aus "Ich sollte" auf dem Herzen und weiß nicht wie. Als plötzlich ihre Stimme ertönt, entfährt ihm fast ein Schrei, so sehr erschrickt er.

"Herr?", fragt sie und bleibt neben ihm in der Tür stehen. Versperrt den Ausweg. Er fühlt ein Herz hämmern, das er für erstarrt gehalten hat. Er geht gemessenen Schrittes zum Fenster hinüber, das Gegenlicht verbirgt seine Gestalt in schmerzhaften Kontrasten vor ihrem Blick.

"Ich erwarte dich nach Anbruch der Dämmerung im Speisezimmer. Sieh zu, dass du angemessen gekleidet bist und wasch dich."

Sie tut einen Schritt auf ihn zu. "Herr?", fragt sie nochmals, als habe sie nicht verstanden.
"Sei pünktlich", erwidert er nur barsch und wirbelt herum. Erschrocken springt sie ihm aus dem Weg, als er zur Tür hinauseilt, das hämmernde Herz unter dem schweren Panzer fühlt sich verletzlich an. Und er fürchtet es.

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